Gerne suche ich für die Interviews Kolleginnen aus, die möglichst vielseitig sind. Eine Charakteristik der Kunstszene. Da bin ich bei Anny und Sibel Öztürk genau richtig. Derzeit führen Anny und Sibel Öztürk einen Laden im Zentrum von Offenbach. Einen Laden namens Materie, der gebrauchte Möbel und Designobjekte verkauft und gleichzeitig Galerie ist. Material steckt in dem Wort, und Art. Als Anny und Sibel das leerstehende Ladenlokal entdeckt haben, wussten sie noch gar nicht genau, was sie dort machen wollten.
Anny und Sibel begannen das Ladenlokal zu renovieren und die Marterie wurde geboren: Möbel, teils aus der eigenen Sammlung, verkaufen und Künstler und Designer aus der Region einbinden und präsentieren. „Es geht uns auch um Up-cycling und Re-cycling und darum nicht immer als neu haben zu müssen.“ Die Marterie ist natürlich auch eine künstlerische Arbeit. Eine soziale Skulptur in Anlehnung an Beuys. Zunächst war ein Projekt von nur sechs Monaten Dauer geplant. „Eigentlich hätte es ein Pop-up sein sollen, dann haben wir verlängert, weil das Projekt so erfolgreich war und so viel Spaß gemacht hat.“
Neben dem Laden bleibt wenig Zeit für andere künstlerische Projekte. 'Unsere aktuelle künstlerische Arbeit sind fiktive Sammlungen. Wir erfinden Sammlerpersönlichkeiten und basteln dann die Kunstwerke der Sammlungen nach. Kunstwerke die wir schon immer mal haben wollten machen wir jetzt selbst.“ Aus den unterschiedlichsten Materialien. Die Badenden von Picasso zum Beispiel haben beide aus Leder nachgeschnitten und aus türkischen Holzlöffeln geschnitzt – es geht also nicht um Reproduktionen. Für eine andere Ausstellung im vergangenen Jahr in Frankfurt haben Anny und Sibel eine Teppicharbeit realisiert. Auch der Teppich entstand in der Auseinandersetzung mit dem Raum. 200 Künstler waren eingeladen je eine Arbeit zu zeigen. Der Boden war noch frei. Der Teppich wurde bemalt und fand durch die Spuren der Besucher erst zu seiner endgültigen Form.
Auch die Marterie ist eine Raumcollage aus Möbeln und Kunst. Wir sitzen auf drei alten Stühlen vor einem kleinen Tisch, an der Wand hängt Kunst, auf dem Tisch vor uns steht ein Designobjekt. „Wir wollen kleine Tableaus erschaffen, Wohnecken wie bei Ikea.“ Anny lacht. „Wenn wir jetzt diese Vase verkaufen“ Anny zeigt auf das Objekt vor uns auf dem Tisch, „dann wird sich die ganze Ecke ändern. Wir gestalten dann alles komplett neu.“ Es ist eben kein normaler Laden mit Designobjekten, das versteht man sofort, alles hat einen künstlerischen Touch.
Interessant ist auch der Bezug zur eigene Familie, der in den Werken von Anny und Sibel immer wieder auftaucht. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Familie und der eigenen Kindheit hängt eng zusammen mit der gemeinsamen Arbeit der Schwestern. Zunächst haben beide als eigenständige Künstlerinnen gearbeitet. Gemeinsame Kindheitserinnerungen gaben den Ausschlag und wurden nach und nach in künstlerische Ideen transformiert. Seitdem arbeiten Anny und Sibel ausschließlich als Team und stellen die Zusammenarbeit auch nicht in Frage. Immer mal wieder werden sie dazu aufgefordert auch eigene Wege zu gehen, aber haben dazu eigentlich keine Lust. Spielt es wirklich eine Rolle was von wem kommt? Natürlich gibt es eine Rollenverteilung in der Zusammenarbeit. Aber die Rollen wandeln sich.
Es gab aber auch eine Zeit, in der sie sich bewusst abgrenzen wollten von Arbeiten die sich mit ihren familiären Wurzeln und ihrer Herkunft beschäftigen. Weil eine Galeristin ihnen sagte Macht doch nicht immer diese Türkenkunst! Solche Aussagen können auch verunsichern. Die Künstlerinnen haben versucht objektiver an Dinge und Themen heranzugehen. Wenn man arbeitet wie Anny und Sibel, kann man die eigene Herkunft nicht negieren.
Das Länderboten Projekt wurde 2013 realisiert auf Einladung der Stadt Offenbach in Kooperation mit Heiner Blum, Hochschule für Gestaltung. In Offenbach leben Menschen aus 164 Nationen. Anny und Sibel porträtierten aus (fast) jeder Nation eine Person in Fotocollagen und illustrierten Textbotschaften. Eine sehr exemplarische Arbeit von Anny und Sibel Öztürk. Ihre Projekte sind extrem vielschichtig, auch der Entstehungsprozess. Anny und Sibel machen es sich sicher nicht leicht. Je mehr Leute man involviert, desto komplizierter wird es, aber es kommt eben auch was anderes dabei heraus. Für das Projekt Lido in der Kunsthalle Düsseldorf haben Anny und Sibel 2005 eine temporäre Installation mit einem zweiwöchigen Veranstaltungsprogramm realisiert.
Zur Zeit in Arbeit ist ein Kunst-am-Bau-Projekt in Wiesbaden, die Fassadengestaltung des Sozialministeriums. Anny und Sibel können sich ausprobieren und das Gleichgewicht finden, zwischen dem was erwartet und in Auftrag geben wird und der eigenen künstlerischen Arbeit.
„Wenn wir uns etwas genau vornehmen, funktioniert es nicht. Wir müssen zunächst an den Dingen vorbeischauen.“ Man muss vertrauen haben, dass etwas Gutes entsteht, und Freude daran dass die Arbeit bis zum Schluss wandelbar bleibt. Dann wird man damit belohnt, den Arbeits- und Entwicklungsprozess mit zu erleben. Männer können das offenbar gar nicht gut, der eine oder andere Kurator ist schon fast verrückt geworden bei so viel geballter weiblicher Flexibilität und Kreativität.
Was bedeutet für euch Erfolg? „Erfolg ist für uns insofern wichtig, als dass wir für und mit Räumen arbeiten. Wenn wir zu Ausstellungen eingeladen werden, entwickeln wir dafür neue Werke. Das heißt Erfolg ist auch ein Motor für unsere Arbeiten, wir brauchen einen Anstoß von außen. Erfolg ist, wenn die künstlerische Arbeit anerkannt und respektiert wird. Aber Erfolg heißt auch Druck.“ In Gruppenausstellungen in prominenten Ausstellungshäusern waren Anny und Sibel Öztürk oft die einzigen Frauen in einer ganzen Riege männlicher Künstler.
Derzeit ist geplant die Marterie zum Jahresende zu schließen. Im Anschluss soll eine Ateliersituation im Laden geschaffen werden, vorübergehend. Wie immer. Wenn es klappt. Sollten sie raus müssen, richten sie eben zu Hause eine Werkstatt ein. Beides ist völlig in Ordnung. Das ist überhaupt die meines achtens die enorme Qualität der Protagonistinnen der Kulturszene: Flexibilität, mit Unsicherheit und Veränderungen jonglieren und nie den Mut verlieren.
Kindheitsträume – der vorletzte war der Laden. Und der letzte? Die Mode! Anny hat schon mit fünfzehn eine eigene Kollektion entwickelt, die auch produziert wurde. Jetzt wollen Anny und Sibel Öztürk die Idee wieder aufgreifen, als künstlerisches Projekt. Wir sind gespannt.
Ein Gespräch über flexible Lebensgestaltung, Kommunikation in der Kunst und unsere Verletzlichkeit