20.05.2020

Christina Lutz

Politik, Gesellschaft und Theater

Das Fotoshooting haben wir schon vor einiger Zeit gemacht. Im Schauspiel Frankfurt, in der Panorama Bar. Ein großartiger Ort, auf den Scheiben des transparenten Kubus flirren die Fassaden, über uns das metallene Wolkenmeer, draußen die Stadt. Dann kam Corona über uns und über die gesamte Kulturszene Frankfurts. Wir führen das Interview online, unterhalten uns von Homeoffice zu Homeoffice. Das geht gut, denn wir kennen uns seit knapp zwei Jahren und sind schnell mitten im Gespräch.

Ich finde wir sind systemrelevant.

Darüber sind wir uns einig. Und stellen fest, dass unsere erste Kooperation bereits in die Wege geleitet wurde, bevor wir uns persönlich kennengelernt haben. Für die Finissage der Ausstellung Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht im Historischen Museum haben der Frankfurter Kranz und das Schauspiel Frankfurt gemeinsam einen Salonabend mit historischen Gästen konzipiert. Die Idee war da, ich war auf der Suche nach einer Kooperation mit Schauspielerinnen, und mein Frankfurter Netzwerk hat mir Christina Lutz zugespielt.

Hauptberuflich arbeitet Christina Lutz am Schauspiel Frankfurt. Als Referentin der künstlerischen Betriebsdirektion und Verantwortliche für Gastspiele und Sonderveranstaltungen. Dabei ist sie sowohl für Produktionen, die in das Haus eingeladen werden zuständig, als auch für Gastspiele des Schauspiel Frankfurt in anderen Städten. Zusätzlich betreut sie Stiftungen, die langfristig angelegte Projekte des Hauses finanzieren, recherchiert und akquiriert aber auch Drittmittelförderer für Gastspiele und Sonderveranstaltungen. Die künstlerische Betriebsdirektion ist verantwortlich für die Koordination aller finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen – Voraussetzung dafür, dass ein Theaterstück aufgeführt werden kann. Ein Theater ist ein großer Betrieb, Christina nennt ihn eine Stadt in der Stadt. „Alles muss genau passen. Wenn ein Zahnrad nicht ins andere läuft hakt die gesamte Jahresplanung.“ Das künstlerische Betriebsbüro ist der organisatorische Koordinator eines großen Teams aus Dramaturgie, Presse und Marketing, technischen Abteilungen wie Bühnentechnik, Ton und Beleuchtung und Werkstätten: Schreinerei, Schlosserei, Maske, Gewand. Die Metapher einer Stadt gefällt mir. Das öffentliche Leben in der Stadt entspricht der Bühne, im Hintergrund sorgen Fabriken, Werkstätten und Verwaltung dafür, dass alles läuft.

Aber wir möchten nicht nur über das Schauspiel sprechen. Wie ist Christina Lutz zum Theater gekommen? Christina Lutz hat Schulmusik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt studiert. Hauptfach Klarinette und Schwerpunkt Chorleitung. Nach Praktika beim Ensemble Modern und an den Münchner Kammerspielen war klar, dass sie am Theater arbeiten will. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Schulmusikstudium studierte sie Theater- und Orchestermanagement, ebenfalls an der HfMdK Frankfurt. Es folgten Engagements in München (Münchner Kammerspiele) und Bochum (Schauspielhaus Bochum). Jetzt, in Frankfurt, hat sie erstmals die Gelegenheit auch eigene Projekte zu realisieren. Von der Musik zum Theater. Man kann sagen, es war ein Quereinstieg. Dennoch gibt es für Christina immer eine Verbindung zur Musik.

Sprache hat immer auch einen Klang, einen Rhythmus, Höhen und Tiefen. Dank der Musik höre ich den Text auf der Bühne anders und gehe auch anders damit um.

Sie vergleicht das Hören eines Textes auf der Bühne mit dem eines Symphonieorchesters: Heraushören von Interpretationen und einzelnen Wendungen in der Stimme. Eine Wahrnehmung, die sehr stark geprägt ist durch das Gehör. Christina Lutz konzipiert am Schauspiel Frankfurt aber auch eigene Stücke, zusammen mit der Schauspielerin Katharina Bach, und setzt sie um. Zum Jubiläumsjahr Hundert Jahre Frauenwahlrecht hat sie in den Kammerspielen gemeinsam mit Katharina Bach und Judith Kurz einen Tony-Sender-Abend inszeniert. Eine szenische Lesung mit fünf Schauspieler*innen über eine Frau, die in Vergessenheit geraten ist.

Geschichte interessiert mich immer in Bezug auf Fragen von heute. Und in Bezug zu Frankfurt.

Es folgte eine szenische performative Lesung, konzipiert ebenfalls mit Katharina Bach, mit vier Schauspieler*innen zum Stonewall-Aufstand in New York. Der Abend zu der Geschichte des Christopher Street Day schildert die Ursprünge in New York, spannt den Bogen nach Frankfurt, bezieht historisches Filmmaterial sowie Interviews und zeitgenössische Texte mit ein. Entstanden ist eine Collage zu der Frage: Wo stehen wir heute?

Mir ist besonders wichtig, Themen mit einem aktuellen, politischen Hintergrund auf die Bühne zu bringen.

Christina Lutz möchte gesellschaftliche Milieus sichtbar machen, die wenig präsent sind auf deutschen Bühnen. „Es geht auch darum, keine zu Angst haben und Konflikte auszuhalten. Unsere Gesellschaft ist keineswegs so offen und plural wie es scheint.“ Für ihre eigenen Produktionen am Schauspiel hat Christina keine Theaterstücke ausgewählt und umgesetzt. Es sind Zeitstimmen, historische und zeitgenössische Texte. Das ist ein bestimmter Stil. Die Themen, die Christina am Schauspiel initiiert haben zum Ziel, etwas zu entwickeln, das über den Status quo am Theater hinausgeht. Die Auswahl der Texte sucht auch eine Konfrontation mit dem Publikum.

Das Publikum soll einen zeitgemäß gesprochenen Text hören, der sich mit unserer Gesellschaft beschäftigt und nachdenklich macht.

Christina, was heißt für Dich Erfolg? „Erfolg ist eine Gefühlssache. Wenn ich frei bin in meinen Entscheidungen, und am Ende des Projektes mit mir selbst innerlich im Reinen. Mit mir selbst und dem Team.“ Schöne Definition. Christina Lutz liebt die Kooperation, das arbeiten im Team, die Spannungen in einer Gruppe, und das aus dem, was einzelne beitragen, etwas Neues, Ganzes wird.

Der Musik ist Christina immer treu geblieben. Im Schauspiel hat sie einen Chor gegründet. „Wir haben in Frankfurt die Idee des Weihnachtslieder-Auffrischungsseminars aus Bochum übernommen und einen Mitarbeiter*innenchor gegründet.“ Inzwischen probt der Chor das ganze Jahr. „Es macht total viel Spaß, man kann eine sehr intensive Verbindung aufbauen mit der Gruppe. Im Chor kommen alle Abteilungen zusammen: Verwaltungsangestellte, Schauspieler*innen, Bühnentechniker*innen,  Azubis.... Alle, die Lust haben, dürfen mitmachen. Und es ist schön zu beobachten wie Leute, die seit Jahren am selben Haus arbeiten, sich endlich auch persönlich kennenlernen.“

Aber das ist immer noch nicht alles. Wir machen langsam den Sprung über das Theater hinaus: Christina macht auch neben ihrer Tätigkeit am Schauspiel weiter Musik. Sie spielt im Uni-Orchester Frankfurt. Klarinette. Zudem spielt sie in unregelmäßigen Abständen in einem Quintett. Und engagiert sich bei DEN VIELEN Frankfurt als Koordinatorin. Und weil das alles noch nicht genug ist, studiert Christina Lutz. Nebenbei. Oder wieder. Politikwissenschaft, Verwaltungswissenschaft und Soziologie. Christina engagiert sich auch kommunalpolitisch, besonders in der Kulturpolitik. „Mich interessiert, wie alles zusammenhängt. Wie Gesellschaft sich verändert, wie Politik, Institutionen und Staat sich entwickelt haben, welche Theorien es gibt. Es entstehen viele neue Fragen. Ich finde, man hat nie ausgelernt.“ Das hilft Strukturen, innerhalb denen man arbeitet, sich bewegt und agiert, mit einem Blick von außen zu hinterfragen und zu durchdringen.

Mich interessieren Veränderungen.

„Auch Veränderung von Strukturen. Deshalb ist Strukturwandel in der Politik, in der Gesellschaft, aber auch in der Verwaltung spannend für mich. Was das Theater betrifft, stellt sich für mich die Frage: Ist das noch zeitgemäß?“ Natürlich ist ein Theater ein riesengroßer Apparat, der klar definierte Verwaltungsstrukturen braucht, um überhaupt zu funktionieren. „Für mich heißt Strukturwandel deshalb nicht nur auf die Verwaltung zu schauen, sondern besonders im künstlerischen Part die Frage nach neuen Wegen zu stellen: Mehr Öffnung zulassen, Teams einsetzen, Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen.“

Transparenz, Offenheit, der Bezug zur Stadt und zur aktuellen Gesellschaftspolitik sind die Themen, die Christina Lutz beschäftigen. Mir scheint in der Panorama Bar sind wir dafür genau am richtigen Ort. Letzte Frage: Neue Projekte in Planung? Am Schauspiel oder außerhalb? Die Antwort lautet: „Themen haben wir!“

Update 2022
Christina Lutz arbeitet nur noch projektbezogen für das Schauspiel und hat dort die Veranstaltungsreihe Transformation(en) – Bühne für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung konzipiert. Derzeit ist sie außerdem verantwortlich für die Künstlerische Produktionsleitung des Festivals Politik im Freien Theater, das im Herbst 2022 und dem Motto MACHT in ganz Frankfurt stattfinden wird.
www.mousonturm.de/festivals/politik-im-freien-theater-2022

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