Das Interview führen wir in Oberrad, nahe den Grüne Soße-Feldern. Zwischen Frankfurt und Offenbach. Grit Weber arbeitet in Frankfurt, wohnt in Offenbach. Was findet sie so besonders an diesem Ort, den sie täglich auf ihrem Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad durchquert?
Hier kreuzt sich Städtisches mit Ländlichem. Hier kann man nachvollziehen, wie früher stadtnahe Gärten zur Versorgung der Bevölkerung dienten. „Ein Anachronismus, der fast noch wie im 19. Jahrhundert anmutet.“ Im Ballungsgebiet Rhein-Main, wo ein großer Druck auf die Vermarktung von Flächen herrscht, ist das sicher eine Besonderheit. Die Grüne Soße-Felder tragen aber auch zum Selbstverständnis von Frankfurt und Offenbach bei. „Städte sind nicht nur eine Summe von Einzelheiten, sondern haben immer auch einen kommunalen Geist. Dieser Geist ist nicht nur immateriell, er muss auch eine lokale Verankerung, einen Ort finden.“
Wie fast immer mit Grit Weber sind wir bald mitten in einem kulturanthropologischen Diskurs. Und haben den Bogen gespannt zu ihrem Studium: Kunstgeschichte, Kulturanthropologie und Kunstpädagogik.
An der Kulturanthropologie interessiert sie die Perspektive, die sich aus der soziologischen und ethnologischen Forschung speist. „Ich habe zum Beispiel verstanden, wie grundlegend Herkunft für die eigene Biografie ist. Und dass man mit Herkunft produktiv umgehen kann.“
Grit ist in Dresden geboren und aufgewachsen und hat dort bis 1991 gelebt. Beide Eltern kommen aus eher einfachen Verhältnissen, aber es war für beide immer selbstverständlich ins Theater, in Konzerte zu gehen oder in die Gemäldegalerie. „So haben meine Schwestern und ich einen ganz selbstverständlichen, alltäglichen Zugang zur Kultur bekommen ohne bildungsbürgerlichen Druck.“
Grit Weber ist seit fünf Jahren stellvertretende Direktorin und Kuratorin für Design, Kunst und Medien im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt. Was bedeutet das kulturanthropologische Verständnis für ihre jetzige Tätigkeit?
Inwiefern beeinflusst ihr Denken den Umgang mit den Designexponaten im Museum? „Schon stark. Ich denke eher in Prozessen und glaube, dass Festschreibungen nur temporär sind.“ Also nicht in Dingen? Wenn ich Design höre, denke ich zunächst an einen Gegenstand... „Genau. Darin manifestiert sich viel, aber ein Gegenstand kann immer auch mehrere Erzählungen haben. Design ausschließlich formalästhetisch zu betrachten wäre sehr langweilig und entspricht nicht seinem Wesen. Design hat immer auch einen Produktionszusammenhang, ist eine Ware, wird benutzt, und auch wieder entsorgt. Es gibt Nutzungskaskaden von Objekten und vielfältige Bedeutungen. Das finde ich interessant, den dynamischen Aspekt.“
Zu ihren Verantwortlichkeiten im Museum gehört auch der Bereich Provenienzforschung. Die Aufgabe eines Museums ist sammeln, forschen, bewahren und vermitteln. „Im Fall der Provenienzforschung entsteht ein Konflikt zwischen dem Sammeln und dem Forschen – aber nicht zwischen dem Forschen und dem Vermitteln.“ Das Ergebnis der Forschung kann dazu führen, dass Objekte restituiert, also aus der Sammlung heraus genommen werden müssen. Bevor man ein Konvolut restituieren muss, kann gemeinsam mit der Provenienzforscherin eine Ausstellung oder Veranstaltung dazu organisiert werden. „Aktuell gibt es eine neue Qualität von musealem Umgang, der den Schwerpunkt weniger auf das materielle ‚haben wollen’ legt, sondern eher auf das immaterielle ‚wissen wollen‘.“
Grit Weber ist seit drei Semestern Lehrbeauftragte für Design- und Kulturgeschichte an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden und hat vor ihrer Tätigkeit im Museum freiberuflich als Kuratorin und Journalistin gearbeitet und für verschiedene Kunstzeitschriften geschrieben, u.a. das Kunstbulletin aus der Schweiz. Aber vor allem hat sie viele Jahre als Chefredakteurin für das art kaleidoscope in Frankfurt gearbeitet. Was hat sie an dieser Aufgabe gereizt? „Das art kaleidoscope ist eine lokale Kunstzeitung, ein Format innerhalb dessen viel möglich ist. Ein Anlass, mit vielen Leuten zu sprechen und sich mit einer Vielzahl von Themen zu beschäftigen. Eine Aufgabe, die Türen öffnet zu Ateliers und Sammlungsbeständen in Depots, die zunächst nicht öffentlich sind.“ In den zehn Jahren ihrer Tätigkeit für das art kaleidoscope hat Grit Weber die gesamte Kulturszene Rhein Main durchpflügt, hat über die Werke zeitgenössischer Künstler*innen und über kulturhistorische Ausstellungen geschrieben – und sich ein großes Netzwerk aufgebaut.
Was bedeutet für Dich Erfolg? „Erfolg ist für mich sehr persönlich. Aus der eigenen Motivation heraus viel von dem zu erreichen, was man sich vorgestellt hat. Erfolg ist ein Prozess. Ein einziges Lebensziel wäre mir zu groß.“ Aber Erfolg ist auch eine individuelle Deutung – ist es öffentlicher Erfolg? Ein allgemein anerkannter Erfolg?
„Ich habe auch zehn Jahre einen handwerklichen Beruf ausgeübt und diesen Beruf immer wieder gerne gemacht. Das ist Erfolg.“ In ihrem Beruf als Zahntechnikerin hat Grit Weber eine unglaubliche Präzision gelernt, die sie bis heute auszumachen scheint und die vielleicht auch ihr Denken bestimmt: Die Präzision, mit der sie einen Gedanken aufgreift und weiter verfolgt. Oder wenn sie davon spricht, wie sie auf ihrem Balkon eine Rose geschnitten hat. All das ist mit einer unglaublichen Konzentration verbunden.
Warum Zahntechnik? In dem Umfeld, in dem Grit aufgewachsen ist, war es im Alter von 15 üblich, eine Vorstellung von seinem künftigen Beruf zu haben. Da ist man noch sehr jung. „Mein Vater hat gesagt, je akademischer ausgebildet, desto näher kommt man dem politischen System der DDR. Bleib unauffällig, mach was Handwerkliches, halte Dich fern von den Machtstrukturen.“ Jetzt ist Grit in einer Position, in der sie eine (kultur-) politische Haltung haben muss. „Ich reflektiere natürlich meine Herkunft, bewerte meine eigene Geschichte immer wieder neu. Meine Eltern waren ja nicht unpolitisch, sie haben sich nur nicht öffentlich geäußert. Unter den jetzigen Bedingungen ist diese Haltung für mich überhaupt nicht erstrebenswert.“
Und die nächsten Ziele? Unter anderem zwei sehr interessante Ausstellungsprojekte, die es zu konzipieren und realisieren gilt. Auf die sich Grit Weber sehr freut, weil sie sehr durch ihr Denken und ihre Arbeit geprägt sein werden. Bei einem dieser Projekte wird es um das Thema Handwerk gehen. Ein persönliches Thema, und ihr Anliegen, aus der aktuellen Perspektive einen neuen Blick darauf zu werfen. Die Ausstellung soll auch die Felder Design und Handwerk, Produktion und Gesellschaft miteinander verbinden und die Wechselbeziehungen in den Vordergrund stellen. Eben die Zwischenfelder, für die sich Grit interessiert.
Zum Schluss möchte ich den Bogen spannen zurück zur Grünen Soße und überlege, ob die Oberräder Felder nicht auch Zwischenfelder sind, Dinge zueinander in Beziehung setzen... Wie und wann ist Grit Weber nach Frankfurt gekommen? Aus Zufall. Wie (fast) alle. Gefällt es Dir hier?
„Ich bin der Arbeit wegen von Dresden nach Wiesbaden gekommen, und aus Neugier. Dann habe ich in Frankfurt studiert und gearbeitet. Frankfurt ist struppig, rätselhaft, disruptiv.“ Disruptiv? Disruptives Denken meint ein Denken in grundlegenden Veränderungen und radikalen Perspektivwechseln. „Innerhalb von Widersprüchen kann es ein gutes und richtiges Leben geben. Es muss nicht immer alles in einer harmonischen Beziehung zueinanderstehen.“
Und mir gefällt Grits Denken und ihre Ausdrucksweise. Am Ende entscheiden wir uns doch für ein anderes Fotomotiv: Nicht für die Gewächshäuser und die Felder mit den Kräutern der Grünen Soße, Frankfurts Hochhaustürme im Hintergrund. Sondern für die Fassadendekoration eines Handwerkunternehmens.
Update 2022
Die Ausstellung Mythos Handwerk wurde im April 2022 im Museum Angewandte Kunst eröffnet – und ist sehenswert!
www.faz.net/aktuell/rhein-main/kultur/museum-angewandte-kunst-in-frankfurt-mythos-handwerk
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